Genossenschaften im Fokus einer neuen Wirtschaftspolitik

Buchrezension

Tagungsbände der XVII. Internationalen Genossenschaftswissenschaftlichen Tagung in Wien 2012  Herausgegeben von Johann Brazda, Markus Dellinger, Dietmar Rössl, LIT Verlag

Das Jahr 2012 liegt zwar bereits einiges zurück und in unserer schnelllebigen Zeit könnte man eine wissenschaftliche Tagung von damals bereits als überholt betrachten. Und wenn sie dann auch noch über 1’500 Seiten an Vorträgen und Berichten in vier dicken Büchern produziert hat, umso mehr.

Doch beim Thema Genossenschaften verhält es sich zur Zeit eher umgekehrt. Je mehr die Probleme und Krisen der turbokapitalistischen Gesellschaft zunehmen und je unglaubhafter Politiker und Wirtschaftsführer mit ihren ewiggleichen Rezepten von Steuererleichterungen für Besitzende und Sparmassnahmen und Kürzungen für gewöhnliche Bürger oder Bedürftige hantieren, desto mehr wird es deutlich, dass Alternativen gefragt sind. Genossenschaften sind dabei ein attraktives Modell, wie die reale Wirtschaft Interessen der Betroffenen und der Begünstigten wieder in Übereinstimmung bringen kann. Wo dieses Genossenschaftsmodell heute steht, welche Erkenntnisse bestehen und neu gewonnen worden sind und welche Entwicklungen anstehen wird in den 99 verschiedenen Beiträgen der vier Tagungsbände in allen Facetten deutlich.

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Ob und wie Genossenschaften Lösungen zur heutigen Krise bieten können wird zwar auch immer wieder als Frage aufgeworfen, so in der Podiumsdiskussion, die im Band I protokolliert ist. Noch werden von den Experten viele Zweifel angebracht und einer Aussage, wie die von Ernst Fehr (S. 269) wird nicht widersprochen: “Meines Erachtens waren Genossenschaften immer eine Reaktion auf Markt-und Staatsversagen. Sie sind sozusagen dieser Dritte Sektor, der immer einspringt, wenn Märkte und Politik versagen.“ Sie zeigt, dass der Glaube an Markt und Staat immer noch ungebrochen ist. Statt daraus den logischen Schluss zu ziehen, dass Markt und Staat immer wieder versagen, also kein brauchbares Zukunftsmodell darstellen, wie sie heute sind, Genossenschaften aber dieses Versagen korrigieren können, also ein effektiveres Modell darstellen, das zum Hauptmodell werden könnte, wird weiter davon ausgegangen, dass Genossenschaften nur in einer Nische bestehen könnten. Das ist schade.

Der zweite Band liefert fundierte Bestandsaufnahmen und aktuelle Entwicklungen. Dem dritten Band “Zukunftsperspektiven“ hätte man noch mehr visionäre, provokative und grundlegende Beiträge gewünscht. Immerhin werden im Beitrag von Sabine Goldmann (S. 855) die allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) unserer Gesellschaft: “Geld“ und “Volkswirtschaft“ diskutiert und darauf hingewiesen, dass die Gestaltung von Geld einen zentrale Rolle in der Gestaltung der Wirtschaft spielt. Aber danach im Abschnitt Neue Entwicklungen in der Rechtsform der Genossenschaft werden statt die Bedürfnisse einer zukünftigen nachhaltigen Gesellschaft als Auftrag und Gestaltungsbedürfnis zu nehmen, Finanzderivate und Eigenkapitalvorschriften diskutiert. Diese Sackgassen sollten als solche gekennzeichnet sein und nicht als Zukunftsperspektiven besprochen werden. 

G:/reihe/umschlag/50515-6_Bd3.dvi G:/reihe/umschlag/50515-6_Bd4.dviDer vierte Band mit den Länderstudien enthält hingegen wieder viel handfestes und anregendes Praxiswissen. Er ist von der Homepage des Verlages frei als PDF/E-Book herunterladbar und gibt einen guten Einblick in die Beiträge der Tagung.

 

 

Insgesamt sind die Tagungsbände ein wertvolles Zeitdokument und Nachschlagewerk das Genossenschaften als pragmatischen und seit mehr als hundert Jahren erprobten Teil der Lösung darstellt. Es ist anzunehmen, dass Genossenschaften weiterhin im Aufwind sind und der Bedarf nach Wissen und Erkenntnis weiter wächst.

Die nächste XVIII. Internationale Genossenschaftswissenschaftliche Tagung findet vom 14. bis 16. September 2016 in Luzern an der Universität Luzern statt. Es ist zu hoffen, dass bis dann noch deutlicher wird, dass Genossenschaften nicht nur eine Nische füllen können, sondern dass das zukünftiges Gesellschaftsmodell mitunter auf ihnen basieren sollte.

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